Minderwertigkeitskomplexe: Wie entstehen sie? Was tun dagegen?
Viele Menschen haben das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Sie fühlen sich anderen unterlegen und im Vergleich zu ihren Mitmenschen minderwertig. Ab und an hat wohl jeder solche Gefühle, es kann aber auch ein ernstzunehmender Minderwertigkeitskomplex dahinterstecken. Wie sich das äußert, welche Ursachen Minderwertigkeitskomplexe haben können und wie man sie bekämpfen kann – hier erfahren Sie mehr darüber.
Was sind Minderwertigkeitskomplexe?
„Ich habe Minderwertigkeitskomplexe.“ Oder auch: „Du hast echt Minderwertigkeitskomplexe.“ Solche Sätze sind in manchen Momenten schnell gefallen, aber längst nicht immer handelt es sich tatsächlich um Minderwertigkeitskomplexe per Definition im psychologischen Sinn. In der Psychologie ist ein Minderwertigkeitskomplex eine psychische Störung, die starke Beeinträchtigungen im Alltag für die Betroffenen mit sich bringen kann.
Der österreichische Arzt und Psychotherapeut Alfred Adler, der als Begründer der Individualpsychologie gilt, hat den Begriff Minderwertigkeitskomplex ursprünglich geprägt. Man spricht auch von Minderwertigkeitsgefühlen. Menschen, die Minderwertigkeitskomplexe haben, haben ein negatives Bild von sich. Sie glauben, weniger wert zu sein als andere, weniger zu können oder positive Entwicklungen nicht verdient zu haben. Im Vergleich zu ihren Mitmenschen fühlen sie sich minderwertig, wobei diese Gefühle in manchen Fällen nur bestimmte Menschen betreffen.
Bei manchen Betroffenen treten die Minderwertigkeitskomplexe nur in bestimmten Situationen auf. Sie fühlen sich dann zum Beispiel minderwertig, wenn der Vorschlag eines Kollegen im Teammeeting beim Chef besser ankommt. Oder wenn sie auf Instagram Fotos von Frauen sehen, die aus ihrer Sicht viel hübscher oder schlanker sind als sie selbst. In vielen Fällen haben die Betroffenen jedoch ein derart geringes Selbstwertgefühl, dass sie in vielen Situationen zu Minderwertigkeitsgefühlen neigen. Damit gehen oft unterschwellige Gefühle einher, nichts wert zu sein. Ebenso gibt es bei Minderwertigkeitskomplexen Unterschiede bei der Frage, ob es dafür einen guten Grund gibt oder nicht.
Diese Anzeichen können auf Minderwertigkeitsgefühle hindeuten
Wenn jemand Minderwertigkeitskomplexe hat, kann sich das in verschiedener Art und Weise äußern. Charakteristisch ist das Gefühl, wertlos zu sein. Man schätzt andere als hübscher/kompetenter/lustiger/attraktiver/cooler (…) ein als sich selbst. Dafür muss es keine objektiv nachvollziehbare Begründung geben. Oft ist es nicht so sehr so, dass jemand tatsächlich mit einer besonders hübschen/kompetenten/lustigen Person konfrontiert ist. Vielmehr hält der Betroffene sich selbst einfach für so unzureichend, dass andere automatisch als „besser“ eingestuft werden.
Menschen, die zu Minderwertigkeitsgefühlen neigen, sind häufig Perfektionisten. Sie stellen hohe Anforderungen an sich selbst, denen sie oft gar nicht gerecht werden können. Dadurch haben sie das Gefühl, zu scheitern, während alle um sie herum scheinbar erfolgreicher sind. Typisch ist dabei, dass die Betroffenen sich auf ihre negativen Merkmale – tatsächliche oder vermeintliche – fokussieren. Stärken und positive Errungenschaften werden ausgeblendet oder von vornherein nicht als solche wahrgenommen.
Viele Betroffene können Lob nicht annehmen
Dass jemand Minderwertigkeitskomplexe hat, kann man leicht bemerken, wenn man ihn lobt. Menschen, die zu Minderwertigkeitsgefühlen neigen, nehmen Lob meist nicht an. Sie relativieren es, indem sie etwa sagen, dass sie selbst gar nicht verantwortlich sind. Wenn jemand zum Beispiel ein Kompliment für seinen „leckeren Kuchen“ bekommt, sagt er womöglich, dass er doch nur ein Rezept befolgt habe. Auf der anderen Seite sind Menschen mit Minderwertigkeitskomplexen oft besonders dünnhäutig, wenn sie kritisiert werden. Weil sie ohnehin nicht viel von sich halten, kann schon eine eigentlich wenig dramatische Kritik sie aus der Bahn werfen.
Wenn die Minderwertigkeitsgefühle stark ausgeprägt sind, kann es sein, dass die Betroffenen bestimmte Situationen meiden, um sich nicht schlecht zu fühlen. Das kann dazu führen, dass sie sich sozial immer stärker isolieren und Chancen nicht wahrnehmen. Oft werden Minderwertigkeitskomplexe zudem von weiteren Problemen wie Ängsten, Essstörungen, Suchtverhalten oder Depressionen begleitet.
Während viele Menschen mit Minderwertigkeitskomplexen am liebsten unsichtbar wären und es nicht mögen, im Mittelpunkt zu stehen, drängen sich andere geradezu in den Vordergrund. Sie haben tief drinnen das Gefühl, nicht gut genug zu sein, wollen das aber durch eine einnehmende, extrovertierte Art kompensieren. Sie erhoffen sich davon Aufmerksamkeit und positive Reaktionen von anderen, was ihren Minderwertigkeitsgefühlen eine gewisse Zeit lang entgegenwirken kann. Das kann so weit gehen, dass Betroffene andere schlechtmachen, um selbst besser dazustehen.
Minderwertigkeitsgefühle können die Lebensqualität stark beeinträchtigen
In manchen Fällen sind Minderwertigkeitsgefühle vorübergehend. Wohl jeder Mensch zweifelt hin und wieder an sich und fühlt sich im Vergleich mit anderen schlecht. Das ist ganz normal und kein Grund zur Sorge, denn es hat keine langfristigen Auswirkungen, wenn es nicht an der Tagesordnung ist. Wenn jemand allerdings tiefgreifende Minderwertigkeitskomplexe hat, kann das seinen Alltag stark negativ beeinflussen.
Zu den möglichen negativen Auswirkungen von Minderwertigkeitskomplexen gehört es, dass Betroffene Vermeidungsverhalten zeigen können. Wer glaubt, dass andere an ihm ohnehin kein Interesse haben, nimmt womöglich die Einladung von Freunden nicht mehr an. Er sagt wahrscheinlich Nein zu Situationen, in denen er sich nicht sicher fühlt. Das kann zur Folge haben, dass Betroffene Freunde verlieren oder aus neuen Bekanntschaften keine Freunde werden, weil sie nicht glauben, dass die anderen mit ihnen Zeit verbringen möchten. Das kann so weit gehen, dass die Betroffenen sich selbst (ungewollt) sozial isolieren.
Wer sich minderwertig fühlt, nimmt Herausforderungen nicht an
Im Job können Minderwertigkeitsgefühle dazu führen, dass jemand sich Herausforderungen nicht stellt. Er ist überzeugt, es ohnehin nicht schaffen zu können und fürchtet sich vor dem Scheitern. Dadurch verbleibt er womöglich in dem, was er schon kennt, bewegt sich aber beruflich auf der Stelle. Für Menschen, die eigentlich vom beruflichen Aufstieg träumen, ist ein mangelndes Selbstbewusstsein ein echtes Problem. Nicht ergriffene Chancen tragen zusätzlich zu Selbstzweifeln bei und können die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben verringern.
Die negativen Gefühle, die mit Minderwertigkeitskomplexen verbunden sind, machen den Betroffenen schlechte Laune, was auch für nahestehende Menschen ein Problem sein kann. Die Unzufriedenheit mit sich selbst kann darüber hinaus vielfältige psychische und körperliche Folgen haben. So können etwa Schlafstörungen auftreten, ebenso können psychosomatische Erkrankungen durch einen Minderwertigkeitskomplex begünstigt werden. Das kann sich zum Beispiel in Form von Rückenschmerzen oder Magen-Darm-Beschwerden äußern.
Minderwertigkeitskomplexe: Welche Ursachen können sie haben?
Manche Menschen entwickeln Minderwertigkeitskomplexe, während andere von ihnen verschont bleiben. Woran liegt das? Die Ursachen für Minderwertigkeitskomplexe sind in der Regel vielfältig. Sie hängen mit den Genen und der Persönlichkeit eines Menschen zusammen: Manche Menschen neigen stärker zu Selbstzweifeln, während andere selbstbewusster sind. Es kommt auch darauf an, wie die Erziehung abgelaufen ist und wie sich die Eltern (und andere wichtige Bezugspersonen) verhalten haben.
Manche Eltern sind sehr kritisch gegenüber ihrem Nachwuchs. Gelobt wird selten, kritisiert dafür viel. Das kann Kinder verunsichern und ihnen das Gefühl geben, dass nur perfekt gut genug ist. Ein Beispiel: Ein Kind kommt mit einer 2 nach Hause. Die Mutter findet ein paar nette Worte, betrachtet die gute Note aber eigentlich als selbstverständlich. Nur bei einer 1 ist sie wirklich zufrieden – das spürt das Kind. Aus so einem Kind kann ein perfektionistischer Erwachsener werden, der sich als nicht gut genug empfindet, wenn er nicht überall der Beste ist.
Auffällige körperliche Merkmale können dazu führen, dass Kinder von anderen Kindern gehänselt werden. Beispiele hierfür sind etwa Übergewicht, Stottern, Lispeln oder Deformitäten. Solche Erfahrungen in der Kindheit können viele auch als Erwachsene nicht abschütteln – und fühlen sich schlimmstenfalls ein Leben lang minderwertig. Das kann selbst dann der Fall sein, wenn das Merkmal gar nicht mehr vorhanden ist, weil jemand zum Beispiel abgenommen hat.
Vergleiche mit anderen als Grund für Minderwertigkeitsgefühle
Obwohl Minderwertigkeitskomplexe in vielen Fällen ihre Ursprünge in der Kindheit haben, können sie auch durch spätere Erfahrungen bedingt sein. Im Laufe des Heranwachsens kann jemand negative Erfahrungen machen, die sein Selbstwertgefühl erschüttern. Das kann negative Interaktionen mit anderen betreffen, aber auch Misserfolge und Rückschläge. Je mehr zusammenkommt, desto wahrscheinlicher werden Minderwertigkeitsgefühle.
Viele Menschen neigen instinktiv dazu, sich mit anderen zu vergleichen. Das ist jedoch in vielen Fällen Gift für das Selbstbewusstsein, zumal man sich in der Regel mit den besten Eigenschaften von anderen vergleicht und ihre Schwächen nicht sieht oder ausblendet. Soziale Netzwerke wie Instagram verstärken diesen Effekt. Dort posten Menschen das, was andere von ihnen sehen sollen. Bei vielen Accounts ist alles perfekt: das Outfit, die Figur, das Arrangement des Abendessens. So ist das echte Leben zwar nicht – auch nicht von diesen Menschen –, was an der Wirkung entsprechender Bilder und Videos jedoch nichts ändert. Bei solchen Vergleichen kann somit man nur verlieren.
Tipps, um Minderwertigkeitskomplexe zu überwinden
Viele Menschen leiden mehr oder weniger stark unter Minderwertigkeitskomplexen. Kann man die Minderwertigkeitsgefühle wieder loswerden? Grundsätzlich ja, allerdings kann es ein langer Weg sein. Das gilt besonders für Fälle, in denen die Minderwertigkeitskomplexe sehr stark ausgeprägt sind. Wenn sie seit der Kindheit bestehen und das Leben der Betroffenen stark beeinträchtigen, ist es ohne fremde Hilfe häufig sehr schwer bis unmöglich, die Minderwertigkeitskomplexe zu überwinden. Betroffene sollten sich in solchen Fällen professionelle Unterstützung suchen, zum Beispiel bei einem Psychotherapeuten, der ihnen bei Minderwertigkeitskomplexen mit einer Therapie helfen kann.
Wenn die Minderwertigkeitsgefühle mäßig stark ausgeprägt sind, können Ihnen die folgenden Tipps dabei helfen, sich positiver zu sehen.
Machen Sie sich klar, was Sie können
Menschen mit Minderwertigkeitskomplexen sehen häufig ausschließlich ihre Unzulänglichkeiten und (vermeintlich) negativen Seiten. Deshalb sollten Sie den Blick ganz bewusst auf das richten, was Sie gut können. Wo liegen Ihre Stärken? Sind Sie ein einfühlsamer Mensch? Können Sie gut zuhören? Oder sind Sie diszipliniert? Nehmen Sie sich einen Zettel und schreiben Sie alles auf, was Ihnen in den Kopf kommt – egal, wie unwichtig es Ihnen erscheinen mag. Sie können auch andere fragen, was sie an Ihnen schätzen.
Ihr Wert hängt nicht von Ihrem beruflichen Erfolg ab
Viele Menschen machen ihren Wert davon abhängig, wo sie beruflich stehen. Ein Chefarzt ist demnach viel wert, ein Arbeitsloser wenig. So sollten Sie aber nicht denken, denn es gibt mehr im Leben als den Job. Der Wert eines Menschen hat nichts damit zu tun, was er im Leben erreicht hat. Der Chefarzt könnte zum Beispiel beruflich erfolgreich, aber im persönlichen Umgang unausstehlich sein. Der Arbeitslose hat zwar gegenwärtig keine beruflichen Erfolge vorzuweisen, ist aber vielleicht ein einfühlsamer, lieber Mensch, der immer ein offenes Ohr für andere hat.
Keine Vergleiche
Die meisten Menschen vergleichen sich ganz automatisch mit anderen. Das sollten Sie aber nicht tun, wenn Sie Ihre Minderwertigkeitskomplexe überwinden wollen. Im Vergleich mit anderen können Sie häufig nur verlieren, denn der Vergleich ist verzerrt. Sie können nur von außen auf andere draufschauen, und wenn Sie in sozialen Netzwerken unterwegs sind, sehen Sie noch weniger, wer jemand wirklich ist. Verzerrt ist auch Ihr eigenes Selbstbild, das von Minderwertigkeitsgefühlen geprägt ist. Versuchen Sie also, die Vergleiche sein zu lassen.
Schließen Sie Frieden mit sich
Wenn Sie Ihre Minderwertigkeitskomplexe überwinden wollen, ist es essenziell, dass Sie sich so akzeptieren, wie Sie sind. Lernen Sie deshalb, Ihre Fehler und Schwächen hinzunehmen. Machen Sie sich klar, dass jeder Mensch eine Mischung aus positiven und weniger positiven Eigenschaften mitbringt. Je eher Sie Frieden damit schließen, wer Sie sind – positiv wie negativ –, desto weniger negative Gefühle verbinden Sie mit sich selbst.
Sagen Sie Ja zu neuen Herausforderungen
An Herausforderungen können Sie wachsen. Wenn Sie Minderwertigkeitskomplexe haben, neigen Sie aber womöglich dazu, unbekannten Situationen aus dem Weg zu gehen. Das ist gleich doppelt unvorteilhaft, denn einerseits entgehen Ihnen auf diese Weise Chancen. Andererseits können Herausforderungen, die Sie gemeistert haben, Ihr Selbstbewusstsein stärken.
Bitte kein Perfektionismus
Perfektionismus gilt manchen Menschen immer noch als positive Eigenschaft, schließlich haben solche Menschen hohe Anforderungen an sich selbst und machen deshalb einen besseren Job. Tatsächlich sind viele Perfektionisten gründlich, aber sie haben auch viel Druck, den sie sich selbst machen. Mit einem guten Ergebnis sind sie oft nicht zufrieden, weil sie mehr von sich erwartet haben. Dass die eigenen Anforderungen unrealistisch sind, machen sie sich oft gar nicht bewusst. Unrealistische Erwartungen können negative Erfahrungen und Gefühle bedingen, die die Minderwertigkeitsgefühle noch zusätzlich verstärken. Lernen Sie deshalb, mit einem hinreichend guten Ergebnis zufrieden zu sein.
Bildnachweis: Tatyana Dzemileva / Shutterstock.com